Sonntag, 18. November 2012
Moin (Tag 1) – 04.11.12
Seit ich nicht mehr rauche, haben sich meine Schwierigkeiten morgens aus dem Bett zu kommen in etwa halbiert. Mindestens. Und so kommt es, dass ich in meinen ersten Tag auf der Insel beschwingt und gar nicht so spät starte. Nach einem kleinen Frühstück treibt es mich zu Strand – ich wähle eine Strecke ab dem südlichen Rantum.
Von einem Parkplatz aus laufe ich über die Dünen Richtung Strand. Es ist das erste mal seit sechs Jahren, dass ich diesen so absolut typischen Geruch von Dünen und Heide wieder in meiner Nase habe. Mein Gott. Was habe ich ihn vermisst! Ich hatte ja keine Ahnung! Für mich ist er so vertraut, sandig, grasig, meerig, syltig, herrlich, birgt plötzliche Gefühle von Geborgenheit, Sehnsucht, Erdung, Mutter.

Überhaupt. Mutter. Sie ist so omnipräsent, in jedem Schritt, den ich hier her getan habe und den ich hier tue. Etwas Untrennbares und Tiefes, das uns verbindet, ist die Liebe zu dieser Insel. Meine Mutter mag mich unberechtigter- und unfairerweise in vielen Dingen ihr gleich gemacht haben (was mir das Leben an der ein oder anderen Stelle unglaublich und unnötig erschwert, so lange ich mich davon nicht löse), aber in diesem einen Punkt liebe ich sie für diese Schwäche, nämlich für diese Liebe für und Sehnsucht nach Sylt.

Ich nehme die letzten Treppen auf der Holzstiege über die Dünen, und dann liegt es da. Nein es liegt nicht, es rollt, es zehrt, es will. Das Meer. Die See. Die geliebte Nordsee. Silbern schimmern die Schaumkronen in der Sonne, es ist noch leichte Ebbe, der Strand ist relativ breit, nur wenige Menschen genießen den Gang an der Gischt. Über viele Meter hinweg rollen Wellen an die Küste, umspülen sie, umarmen sie, greifen und stehlen sie. Und das Dünengras beugt sich dem Wind. Die Szenerie liegt vor mir wie ein Gemälde, und ich lebe mitten drin.

Es fühlt sich alles vollkommen surreal an. Dass ich wirklich wieder hier bin. Dass ich den Sand unter meinen Schuhen spüre, dass ich das Salz auf meinen Lippen schmecke, dass feiner Sprühnebel von den brausenden Wellen auf meinem Gesicht liegt. Wie konnte ich so lange ohne sein? Ich liebe das alles so sehr, dass ich mich frage, ob denn tatsächlich schon Vokabeln dafür erfunden wurden.

Aber ob oder ob nicht. Egal. Es ist fantastisch, und mit einem fetten Grinsen auf dem Gesicht und aufsteigenden Juchizern in meiner Brust stapfe ich Richtung Süden. Strandgut, Muscheln, Steine, Scherben, und Sand Sand Sand. Das Meer riecht SO GUT. Vereinzelt begegnen mir Paare, nur wenige einzelne Spaziergänger scheinen unterwegs. Die Sonne blendet mich, aber erst spät ringe ich mich zu einer Sonnenbrille durch – ich will alles sehen wie es wirklich ist. Ich will es in mich aufsaugen! Mit Augen, Nase, Lunge, Ohren, allen Sinnen. Es ist als hätte eine lang vergessene Sucht schlagartig wieder von mir Besitz ergriffen. Phänomenal.

Kurz vor Sansibar kehre ich um. Irgendwie traue ich mich nicht dahin. Es ist wie mit Kampen. Meine Mutter hatte nie Hemmungen egal wo auf der Insel zu verkehren (und damit meine ich vermutlich nicht nur gastronomische Einrichtungen). Sie war einfach da. „Hallo, hier bin ich, mir gehört die Welt, und jetzt tanzt mit mir!“ Und sie hatte Spaß. Das wusste ich schon mit 6 (auch wenn es mir damals nicht gefiel). Als ich Anfang 20 war, schleppte sie mich überall mit hin. Nach Westerland in diverse Schuppen, nach Kampen in die Sturmhaube und in die Kupferkanne, und damals war es auch, dass ich bei einem Sommerurlaub mit ihr ein paar junge, reiche und fesche Typen kennenlernte, die mich ins Pony einluden und mit denen ich danach bis in die Morgenstunden in einem Stripclub in Westerland abstürzte. Es war der Knaller. Damals war ich mit Muttern auch in der Sansibar, und eine attraktive ältere Dame vernarrte sich in mich und meinte, wenn ich nicht berühmt sei, wer dann. Ich lachte damals nur, aber sie beharrte darauf. „Sie sind so attraktiv! Sie MÜSSEN berühmt sein!“. Nein. Anyway.

Ich kehre heute jedenfalls um, und auf dem Rückweg begegnen mir drei attraktive Kerle, die mit Sicherheit keine Hemmungen haben in der Sansibar einzukehren und mich frech und auffordernd anlächeln. Ach, denke ich mir. Thisbe. Du dumme Kuh. Bitte ringe endlich deine Zweifel nieder. Ringe sie nieder, und nimm dir einfach was du willst. Nimm dir Sansibar. Nimm dir Kampen. Nimm dir alles. Und wenn einer ein Problem damit hat, soll er dran ersticken. Ich hasse meine Unsicherheit und mein angeschlagenes Selbstbewusstsein. Hätte ich die drei angesprochen, ich könnte meinen Arsch drauf verwetten dass wir ein paar heitere Stunden gehabt hätten. Egal ob in der Sansibar oder sonst wo.

Den Nachmittag bringe ich am Morsum Kliff und (nur kurz) in Keitum zu. Der Himmel hat inzwischen zugezogen und am Morsum Kliff herrscht eine verwunschene Stimmung. Als könnte gleich ein Mord passieren. Kennen Sie sowas?

Völlig schockiert hat mich, dass scheinbar Nielsens Kaffeegarten in Keitum dicht gemacht hat. Erst die abendliche Recherche kann mich darüber aufklären, dass Umbaumaßnahmen stattfinden und wir ab 2013 mit seiner Rückkehr rechnen können. Phu. Also das wär ja was gewesen. Mamas altes Café dicht. Mit dem tollen Blick übers Wattenmeer. Ne.

Immerhin ist der alte Lorenz in der Dorfmitte noch da. Glaube ich. Jedenfalls ist da noch ein Reitstall. Wenn Sie Reiter sind – gehen Sie dahin! Es sind die wunderbarsten Ausritte der ganzen Welt. 2 Stunden lang am Morgen Richtung Norden, durch wunderschöne verhexte Dünen- und Heidelandschaft, und mit gnadenloser Attacke am Strand. Aaaaahhh… vergessen Sie Sex. Leider bin ich seit Jahren viel zu ungeübt um diesmal in diesen Genuss zu kommen. Das bestärkt mich aber nur in meinem jüngst aufkeimenden Wunsch, wieder Reitstunden zu nehmen. Ich glaube, über den alten Lorenz habe ich in diesem Blog schon etwas geschrieben. Ich muss es verlinken wenn ich wieder online bin.

Tja. Und dann war es Abend, und ich überlege, wohin bloß mit mir, an welchen Abendtrog. Ich entscheide mich für das Ste*ak- und Ha*xenhä*uschen in der Keit*umer Ch*aussee. Dass ich dort inkl. Trinkgeld über 50 Euro lassen würde, war mir vorher zwar nicht klar, aber im Nachgang jeden Cent wert. Die Bedienung ist groß, blond, mit Pony und sehr sympathisch. Freundlich fände ich hier unangebracht. Das hat so etwas Unpersönliches. Und so ist sie nicht. Sie ist persönlich und gut und verbindlich.

Ein kurzer Blick auf die Tageskarte lässt mich die Lammhaxe mit Rosmarinkartoffeln und Prinzessbohnen wählen. Liebe Leute. Es ist ein Gedicht. Dazu ein bombastischer Shiraz, der ebenfalls jeden Cent der 8 Euro pro Glas wert ist. Der Herr des Hauses schaut auch immer mal wieder vorbei, und beim Absacker, einem hammermäßigen Kakao-Schnapps, verquatschen wir uns ordentlich über seine Tochter, die angeblich (ich möchte ihm das glauben) mit ihrer Agentur den „Geiz ist geil“ Slogan erfunden hat (und das hat er keineswegs rausposaunt.. wir hatten es von kik und Discountern, und „Bio“ aus Ecuador und Chile, und ich sagte irgendwann ironisch „Geiz ist geil“ … da erwähnte er das dann). Außerdem berichtet er mir von unbezahlbarem Mietraum auf der Insel, von 4000 Pendlern pro Tag, davon, dass er ein Häuschen hinter dem Restaurant hat, er ein alter 68er aus Hamburg und inzwischen 71 ist und gerne verkaufen möchte (Leute, gebt mir nen Kredit!) Meine Auskunft auf seine Frage, in welchem Hotel ich wohne, quittiert er nur mit der Aussage „Wohnklo“ (traurig aber wahr, aber vergessen Sie nicht – das Wohnklo ermöglicht mir finanziell, am Abend für 50 Euro in Restaurants wie seinem zu speisen. Wie ist das bei Ihnen – sparen Sie lieber beim Schlaf oder beim Essen? --- Eine bessere Matratze wäre mir das nächste mal aber auch mindestens 10 Euro mehr pro Nacht wert…)

Seine reizende Bedienung, die nur wegen der Liebe seit 2 Jahren auf Sylt ist, gab mir einen Wellness-Tipp in Hörnum und warnte mich vor den betrunkenen Typen drei Tische weiter. Und sie meinte, von der Insel sage man, dass sie einen glücklicher machen könne als man eh schon sei, aber auch viel unglücklicher, als man sei. Vor allem Single-Frauen, die hier her ziehen würden, wären brutal gefährdet. Viele davon würden auch nicht rausgehen. Da brauche man ja auch einen bestimmten Charakter zu, einen kommunikativen, meinte die Frau. Und dass sie es toll fände, dass ich, eine Frau, alleine hier in diesem Restaurant sitzen würde. Ich sagte: „Also ich bin solo. Wenn ich darauf warten würde, nicht alleine in den Urlaub fahren zu müssen, dann würde ich mich erschießen. Alle fahren mit ihrer Familie oder ihren Partnern. Deswegen bleib ich doch nicht zu Hause hocken. Ich bin das so gewohnt. Und ich bin es auch gewohnt, dann abends nicht im Hotelzimmer zu weinen, sondern mir Gutes zu tun.“ Tolles Essen, das ein oder andere interessante Gespräch – das sei doch wohl herrlich! Und sie meinte, tja, ja, erschießen, dass tun sich wohl dann auch einige dieser Alleine-Frauen, die schon in ihrem ersten Winter auf der Insel totunglücklich werden, weil sie eher so sind: „Was – alleine irgendwohin? Nein – da bleibe ich lieber alleine zu Hause“.

Die Kellnerin hat einmal ein Jahr allein in Australien verbracht. Und überhaupt, ihre ganze Erscheinung schreit – ich kann! Ich mag sie sofort und immer mehr, und am liebsten wäre ich in dieses gemütliche Restaurant sofort eingezogen. Mit der Rechnung reicht sie mir schriftlich ihren Wellness-Tipp (da hat man Blick auf die Dünen), damit ich ihn auch nicht vergesse.
Ich beschließe ein Offline-Tagebuch zu führen – was nun dies hier ist. Und bevor ich das schreibe, kaufe ich mir an einem Kiosk zwei Flensburger Pilsener, ausgezeichnet von Ökotest mit „sehr gut“. Sehr gut, oder? Wobei der Shiraz echt bombe war…

Wir haben alle Sorgen. Aber manchmal denke ich mir, eigentlich habe ich keine. Ich habe heute endlich mal wieder eine Dankbarkeit gespürt, die ich wohl schon oft hätte spüren müssen. Und es war aufrichtig. Ja. Mama ist schwierig. Und ich bin bald 33, unverheiratet, solo, kinderlos (ich hatte gerade ‚inderlos‘ getippt – das auch, ja). Viele Dinge machen mich oft traurig. Mama. Mama. Mama. Und sehr vieles mehr. Das fängt bei der Ausbeute von Bienen an (echt, da habe ich einen ganz widerlichen Bericht gesehen, wo der Ami-Imker zum Summen der Bienen in der verdammten Monokultur meinte „aaahh… so klingt Geld“.. man möchte kotzen), geht über Trauer bei Waschbären auf Betonböden in Tierparks, bei Eisbären auf schmelzenden Eisschollen, bei den Nachrichten könnt ich sowieso meistens heulen, bei sterbenden Landschaften auch … manchmal glaube ich, ich fühle zuviel. Wirklich jetzt.

Aber mindestens genauso viele Dinge machen mich glücklich, vor allem seit ich den Schritt zurück nach Mannheim gewagt habe. Die Musik! Musik, wie wunderbar, ganz unabhängig vom Genre, wie viele Möglichkeiten haben wir Stimmungen und Gefühle in Ton und Klang auszudrücken. Traumhaft! Und Tanz! Und Bücher, Worte, Zeilen. Gedanken. Der Duft von gedrucktem Papier. Wie viele Möglichkeiten, die paar Elemente unseres Alphabets immer wieder neu anzuordnen und Geschichten über Geschichten zu erschaffen. Und dann - Freunde. Gute Gespräche. Bäume, Städte, Bauten, Frotteebettwäsche, Aprikosensaft, Rotwein, Braten, überhaupt – gutes Essen! Und Sand, Wellen, der Duft von Dünen, Bilder, Künste, so viele unterschiedliche Charaktere, Reiten, das Knarzen und der Duft von Ledersätteln, Spontaneität, Zufälle, Momente. Die Welt. Und das, was sie für mich im Innersten zusammenhält. Natürlich bin ich nicht durch die Bank glücklich. Was für ein Wort. Glücklich. Das macht uns krank, das ewige Streben nach Glück. Aber ich bin zufrieden, froh. Und doch auch an Tagen wie heute glücklich. Und das ist kurios. Denn…

Nichts ist so, wie ich es mir mit 14 vorgestellt habe. Aber wenn ich ganz ehrlich bin – unterm Strich ist es für mich nun vermutlich sehr sehr viel besser.