Dienstag, 9. Mai 2006
Omnia bona mea mecum sunt*
Den alten Lorenz kennt sie bereits seit vielen Jahren. Sein Reiterhof liegt direkt an der hübschen, baumgesäumten Hauptstraße, die durch das malerische Dorf führt. Es ist ihr Lieblingsdorf auf der Insel. Unzählige reetgedeckte Häuschen, alle gepflegt, ob rohe Ziegel oder frisch getüncht, Hagebuttensträuche, anheimelnde Teestuben.

Als Kind hat sie dem alten Lorenz ab und zu dabei geholfen, abends die Pferde auf die Koppel zu bringen und sie am nächsten Tag früh morgens wieder zum Stall zu führen. Sie liebt den Stallgeruch. Oft sitzt sie einfach im Eck auf einem Heuballen und beobachtet den alten Lorenz. Er hat faszinierende Augen, stahlblau blitzen sie kalt aber intelligent unter dem Schirm seiner Cordcap hervor. Noch nie hat sie so ein blau gesehen. Sie weiss nicht, ob sie in ihnen versinken soll, irgendwie flößen sie ihr Angst ein. Der alte Lorenz spricht mit den Pferden, oder singt für sie, meist Platt. Hingebungsvoll lauscht sie seinen Gesängen und seinen Geschichten, oder auch seinem Geschimpfe, und saugt dabei den Duft aus Heu, Leder, Sattelfett, Stalldung und Pferd tief in sich ein.

Auch wenn sie gerne an seinem Reitunterricht teilnimmt, der im Sommer überfüllt ist von Touristen, so ist es doch ihr höchstes Glück frühmorgens mit ihm auszureiten. Der alte Lorenz hängt lässig in seinem Sattel und pfeift vor sich hin, das Geschirr des Zaumzeugs klirrt wenn ein Pferd ungeduldig prustend seinen Kopf schüttelt, das Sattelleder knarzt, das leise Lachen der Reiter schwebt in der Luft. Bei gutem Wetter zwitschern Vögel munter von den Dächern und Bäumen, bei schlechtem Wetter zieht die kleine Karawane durch Nebelschwaden oder Nieselregen durchs Dorf Richtung Küste.

Sie könnte den Weg mit geschlossenen Augen reiten, so verinnerlicht hat sie ihn. Immer wenn sie den kleinen Hang hinter der Kirche hinabreiten, beginnt ihr Herz Purzelbäume zu schlagen, denn unten kann sie bereits das Meer sehen. Das Pferd spürt ihre Unruhe, tänzelt nervös und drängt vorwärts. Es fällt ihr schwer es zurückzuhalten, auch sie will nur noch lostoben. Endlich ist es soweit.
Im gestreckten Galopp durchs Wasser, den Oberkörper tief über den Pferdehals gebeugt, der Wind pfeift um die Nase und alles was sie hört ist das Trommeln der Hufe auf dem nassen Sand, spritzendes Wasser und das heulen des Windes. Jedes mal könnte sie jauchzen vor Glück, ihr ganzer Körper fühlt sich an als würde er jede Sekunde zerspringen wenn sie nicht laut ihre Freude in die Welt schreit.

Der alte Lorenz hasst Schön-Wetter-Reiter. Da Lorenz aber auch lieber ohne Regen ausreitet, zieht er immer seine Schön-Wetter-Jacke an. Er schwört darauf, dass es mit Sicherheit nicht regnen wird, wenn er diese Jacke trägt. Erstaunlicher Weise hat sich das fast immer bewahrheitet. Sie vermutet allerdings, dass er das Wetter der Insel inzwischen so gut kennt, dass er genau weiß, wann er die Jacke anziehen kann ohne bloßgestellt zu werden.

Lange reiten sie am Meer entlang, wenden dann ab ins Inselinnere und durchqueren Heidefelder auf sandigen Reitwegen. Schaukelnd in den Tag mit diesem unbeschreiblichen Duft der Heide vermischt mit dem des Meeres und der warmen, dampfenden Pferdekörper… Der alte Lorenz strahlt leise vor sich hin. Sie betrachtet sein Profil gegen die Sonne, bis er sich ihr zuwendet und sie aus seinen blauen Augen anblinzelt. Stilles Einvernehmen.



*Alles, was Wert für mich hat, habe ich bei mir (Seneca)
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