Mittwoch, 12. April 2006
Fluctuat nec mergitur*
Nachts sitzt sie gerne in der Dunkelheit ihres Wohnzimmers und blickt stundenlang auf das Meer. Wenn es die Temperaturen zulassen, öffnet sie das Fenster um dem rhythmischen Rauschen zuzuhören. Nie könnte ihr dabei langweilig werden. Sie fühlt sich dabei geborgen, als würden die Wellen sie fest umschließen und mit sich tragen.

Heute Nacht mischt sich das Salz in der Luft mit dem ihrer Tränen. Sie drückt sich das Kissen enger an den Bauch, holt tief Luft und greift nach ihrer Rotweinflasche. Wieso sie hier sitzt und weint ist ihr selbst nicht ganz klar. Ihr Unterbewusstsein sprudelt munter Emotionen hoch, die sie sonst so gerne vergräbt. Je mehr Gefühle sich auf sie stürzen, desto leerer fühlt sie sich. Sie kann ihrer Traurigkeit keinen Namen geben, kann sie nicht greifen. Stattdessen greifen ihre Abgründe nach ihr und wollen sie zu sich holen. Einzig das Meer nimmt sie beschützend in seine Arme und versöhnt sie mit ihrem Kummer. Während Boote ihren Anker in die Tiefen der Nordsee werfen, dient die See ihr als Boden und Anker zugleich, ihr, dem kleinen Schiffchen zwischen den Wogen, die sie mal sanft und gutmütig schaukeln, mal wild und erbarmungslos umherschleudern. Sie stand schon einige male davor zu kentern. Was ohne das Meer gewesen wäre, ist irrelevant. Denn es ist da.

Die zweite Flasche ist fast leer. Leicht wankend rafft sie sich auf und schreibt einen kurzen Brief, rollt ihn eng zusammen und bestückt die erste Flasche damit. Langsam spaziert sie hinunter zum Meer. Sie muss über sich selbst lächeln, fühlt sich ein bisschen albern und dramatisch. Aber sie ist sich ganz sicher, dass irgendwo jemand, der nicht weiß, wo Halt finden, einen Hinweis darauf braucht, dass er den Halt genau vor seiner Nase hat.


*Von den Wogen geschüttelt, wird es doch nicht untergehen.
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